Lugano, 26. November 2024
Licht anzünden, um den Schatten den Schrecken zu nehmen und ihnen endlich Ruhe zu geben und mir.
Auch wenn wir so tun, als ob nichts wäre, ist das neue Jahr schon wieder alt geworden und neigt sich immer weiter über die Klippe, die es sich in ein paar Wochen mit kurzem Getöse hinabstürzen wird.
Vor etwa zehn Tagen, am 15. November, ist unser Freund, der Schauspieler, Regisseur, Maler und Bildhauer Alessandro Marchetti gestorben. Er hinterlässt mit seinem Tod eine schreckliche Leere. Da ist nicht nur ein grosser Mensch, ein Theatermann, ein Künstler, ein Freund gegangen, sondern es ist, als hätte er eine ganze Welt mit sich fortgerissen. In meinem Nachruf erzähle ich von ihm und von seiner und unserer Geschichte.
Heute beginnt ein neues Kapitel: mein, unser neuer Newsletter auf Deutsch startet. Danke, dass Du dabei bist. Wir werden noch Raum und Zeit haben, uns zu finden, Konzept, Inhalte und Technik zu verfeinern und weiterzuentwickeln. Wichtig ist jetzt, zu beginnen. Herzlich willkommen!
Nicht zuletzt durch diese Tage der Trauer habe ich realisiert, auf welch hohem Niveau das Gejammere in meinem letzten Schnappschuss von Anfang November in die Tastatur geflossen ist und habe mir geschworen, kein Wort mehr über an widriges Klima gebundenen Befindlichkeiten zu verlieren, solange nicht die Apokalypse hereinbricht. In diesen Tagen habe ich mit Freunden in der wahren Dunkelheit: in England und in Finnland gesprochen, und sehe ein, dass ich hier im Tessin nicht den geringsten Grund habe, mich über die dunklen Tage oder die Kälte oder Novemberwetter zu beschweren.
Heute hat Yves Klein den Himmel aufgetragen über den Bergen. Vom Gipfel des Monte Brè1 schweift der Blick in Richtung Westen über die Stadt mit dem Monte-Rosa-Massiv2 und der Dufourspitze als Hintergrund, um in Südwesten über abfallende Berge bis tief in die Ebenen des Piemonts zu gleiten. Im Winter ist die Luft hier weit weniger dunstig als im Sommer, wenn allabendlich Gewitter niedergehen aus während des Tages über den Bergen aufgetürmten Wassermassen. Der Blick scheint sich zur Winterszeit ständig selbst zu verlängern wie dieser Teleskopstab, mit dem der kleine Herr Hähnlein ganz oben auf der Tafel noch immer auf d = R * arccos(sin(φ1) * sin(φ2) + cos(φ1) * cos(φ2) * cos(λ2 - λ1))3 zeigt.
Das Wissen, dass, könnte man hier auf dem Gipfel des Monte Brè die Kraft des Auges maximieren, am Ende des Blickstrahles Sanremo und Monaco, Nizza, Antibes, dann Cannes, Saint-Tropez, und einen Deut weiter westlich Marseille sich am Mittelmeer rekeln und dass, könnte der Blick auch den Golfe du Lion noch durchmessen, das Auge genau auf Barcelona fiele, lässt Gedanken an die Enormitäten des Alltags, an Terminplanung, Rechnungen und Blutuntersuchung auf das zurückschrumpfen, was sie wirklich sind: Kinkerlitzchen. Pillepalle, Sandkörner im Getriebe der Gedanken, die einfach im Zuge der täglichen Hygiene hinausgeblasen werden müssen in die klare Luft.
Anfang des Jahres hatte ich in Griechenland begonnen, unsere Veröffentlichungen: Webseiten, Blogs, Bücher, Newsletter neu zu denken und sie umzustrukturieren. Erst jetzt kommen wir dazu, sie – kaum zu glauben!– Wirklichkeit4 werden zu lassen und die neuen Newsletter zunächst auf Deutsch (Markus Zohner) und in zwei Monaten dann auch auf Englisch (Change my Mind!) herauszubringen.
Heilfroh bin ich, dass jetzt unser letztes Buch Totentanz – la quarantena (auf Italienisch) herausgekommen und damit beendet ist. Nicht nur die monatelange Arbeit an der Edition selbst war ein Kraftakt, sondern auch fast fünf Jahre Arbeit an den Thematiken sind endlich abgeschlossen: Kriegsgeschichten meiner Familie mütterlicherseits, die mit ihren Abgründen, ihrer Härte und Verwüstung bis heute ihre Schatten auf mich werfen. Vielleicht habe ich mit der Arbeit versucht, ein Licht anzuzünden, um den Schatten den Schrecken zu nehmen und ihnen endlich Ruhe zu geben und mir. Auch die Pandemie, während der die Texte des Buches entstanden sind, konnten wir so jetzt endlich ins Bücherregal stellen, um uns neuen Welten zuzuwenden; neuen Texten, neuen Newslettern, neuen Büchern, und im Frühjahr 2025 auch einem neuen Stück.
Heute: 5 KM
Bücher
Mythen des Alltags von Roland Barthes
Munk von Jan Weiler
wieder:
À l’ombre des jeunes filles en fleurs, von Marcel Proust
46.008430° N, 8.984512° O
45.94838° N, 7.81675° O
Wie wir uns alle aus Herrn Hähnleins Unterricht erinnern, berechnet das sphärische Kosinusgesetz, auch bekannt als Grosskreis-Distanzformel, die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten auf einer Kugel wie der Erde. Er versicherte uns stets, dass uns diese Formel immer sicher nach Hause führen würde.
Gerade habe ich während der Arbeit an einem anderen Artikel die Etymologie des Wortes Wirklichkeit gelernt:
Ursprung ist das Wirken, also das Tun, das Handeln, das dann, über die Jahrhunderte hinweg, die Realität schafft. Das Wort wirken stammt vom althochdeutschen wirken (würken, wurken) und ist verwandt mit dem lateinischen vergere (sich neigen, sich wenden). Wirken bedeutete ursprünglich tätig sein, arbeiten, schaffen, ins Werk setzen, Wirkung haben bzw.ausüben. Die Bedeutungen umfassen neben der allgemeinen Tätigkeit auch spezifische Handlungen wie das Herstellen von Textilien durch Weben oder Stricken.
Das Adjektiv wirklich bedeutete: tatsächlich, wahrhaftig, was gewirkt/geschaffen wurde, was Wirkung zeigt.
Wirklichkeit als Substantiv entwickelte sich im Mittelhochdeutsche und bezeichnete zunächst das Gewirkte, also das Geschaffene, später: das tatsächlich Vorhandene (im Gegensatz zum ‘nur’ Gedachten)