Dies ist der dritte Teil der Serie Gestalten in Käfigen.
Diese Texte entstehen langsamer, als ich zunächst dachte. Gerne möchte ich das Thema weiterentwickeln, von verschiedenen Seiten anschauen, und auch auf Deine Antworten und Fragen eingehen. Eine Idee ist, die Thematik weiter zu öffnen und auf die kommenden Monate auszudehnen, aber abzuwechseln mit Texten aus anderen Themenwelten.
Kommenden Donnerstag also: Die Erinnerung an einen Jahrhundertschneefall im Tessin.
Nehmen wir uns Zeit, Raum und Konzentration!
Ich freue mich, wenn Du antwortest, und werde versuchen, die zugeworfenen Fäden weiterzuspinnen.
Gute Lektüre, bis zum Schnappschuss am Montag!
Markus
Teil 3 der Serie Gestalten in Käfigen.
Raubkatzen – Die Befreiung
Es war Anfang der Siebzigerjahre in der eingesperrten Zeit meiner Kindheit. Kaum etwas von der äusseren Welt drang damals hindurch in meine innere Behausung.
Die Männer, die in der Pause den grossen Käfig in der Manege aufbauten, beruhigten mich, nicht wegen der drohenden Raubkatzen, von denen ich nichts ahnte, sie sedierten vielmehr einen permanenten Angstzustand, den mir die Pferde, Elefanten und entfesselten Akrobaten auf ihren Hochseilen und schwingenden Trapezen bereiteten. Dieses gefährliche, unbekannt Lebendige des Zirkus und diese ständig knapp an ihrem tödlichen Sturz vorbeifliegenden Luftkünstler waren ein Albtraum, den ich, sieben oder acht Jahre alt, zitternd und mit schweissnassen Händen verfolgte. Die hereintrabenden Männer beschwichtigten mich, wie mich heute gewisse Romane beschwichtigen, die keine grössere Spannung aufbauen, sondern einfach erzählen. Prousts Suche nach der verlorenen Zeit etwa, Maria Stepanovas Nach dem Gedächtnis oder Bellows Herzog, Dichtung, die mich auf eine wunderbare Art entführt und gleichzeitig in Frieden lässt.
Ich hätte die beruhigend laufenden Gitter mit ihren Menschen daran ewig weiter zusehen mögen. Wir hatten glasierte Äpfel bekommen in der Pause und waren mit den kleinen Büscheln schneeweisser Zuckerwatte an unseren Holzstöckchen und mit klebrigen Fingern zu unseren Plätzen zurückgekehrt. Für mich war diese Szene bis zu jenem Moment die schönste des ganzen Abends. Die Schnelligkeit und Gewandtheit dieser Männer, die da vor meinen Augen einen grossen Schutz aufbauten für mich, für meine Mutter und meinen Bruder und für alle Anwesenden, und wohl auch für die, die sich in Kürze in seinem Inneren befinden würden, war wohltuend. Einen Schutz vor einer unbekannten Welt, der erst errichtet werden musste und der wohl wieder abgebaut würde, wäre die Gefahr, worin sie auch bestehen möge, erst wieder gebannt, oder vorüber. Ich legte meine kalten Hände in die meiner Mutter und war froh.
Gemetzel
Entsetzen packte mich, als das Licht ausging und zuerst ein schwarz gekleideter Mann durch eine Gittertür eintrat, die hinter ihm fest verriegelt wurde, und dann eine grosse Zahl enormer Raubkatzen, Löwen oder Tiger, oder beides, durch einen engen Tunnel in den Käfig getrieben wurden. Diese Tiere, die mit gefletschten Zähnen zwischen Hockern hin- und herschlichen waren die Ausgeburt von Bestialität, augenscheinlich auf nichts aus als auf das hilflose rohe Fleisch, das da, in einen schwarzen Anzug gesteckt und gerade einmal mit einem Stock in der Hand, vor ihnen stand, und sie mit Rufen und Stockwedeln notdürftig in Schach hielt. Es war nur eine Frage der Zeit, dass dieser schutzlose Mann vor meinen und den Augen aller in einem blutigen Gemetzel zerrissen und verspeist würde.
Ich bat meine Mutter, mit mir den Saal zu verlassen, bis die Nummer zu Ende war. Da aber mein kleiner Bruder das Gefauche und Gebrüll seelenruhig mit anschaute und auch sie selbst augenscheinlich nicht sonderlich besorgt war und sich wohl auch nicht an dutzenden von Zuschauern vorbeidrängen wollte, um den Ausgang zu erreichen, blieben wir auf unseren Plätzen.
Das Gesicht hinter den klebrigen Händen zu verstecken half auch nicht weiter, denn die Rufe und vor allem das schauderhafte Gebrüll der Tiere jagten mir derartige Schrecken ein, dass ich vorzog, dem tödlichen Angriff, der jeden Moment erfolgen musste, mit offenen Augen entgegenzusehen.
Wie ich den Rest der Nummer überstanden habe, weiss ich nicht. Die einzige klare Erinnerung an das Ende ist ein brennender Kreis und der Löwe mit bewundernswerter Mähne, der sich nach langem Weigern plötzlich entschliesst, in einem enormen Satz durch das Feuerrad zu springen. Tosender Applaus, und unendliche Erleichterung, als hinten eine Schiebetür aufgeht und die Katzen, augenscheinlich genauso erleichtert wie ich, sich einer nach der anderen durch den Tunnel aus dem Käfig hinaus in die Freiheit ducken, die die Abwesenheit von Aufgaben ist, also in andere Käfige drängen, die hinter der Manege sie erwarten.
Gestalt. Nicht. menschlich.
Noch während der grosse Käfig rückwärtslaufend wieder abgebaut wurde, trat ein kleiner, rotgewandeter Clown in die Manege. In einer Hand hatte er eine Gitarre, mit der anderen schleifte er einen Stuhl hinter sich her. In der Mitte der Manege blieb er stehen, blickte ins Publikum, Applaus. Mit seiner kleinen Verbeugung schien er uns alle mit so etwas wie Glück zu überschütten. Er ging weiter bis nach vor, am Rand der Manege, blieb einfach stehen, in vollkommener Durchsichtigkeit, als ob da kein menschlicher Körper, sondern ein aus Schwingungen bestehendes Wesen stünde, transparent und in vollkommener Schutzlosigkeit. Wieder Applaus. So stolperte dieser Clown denselben Weg, den wenige Momente zuvor der Löwe an der Bande entlanggeschritten war, als wolle er sich bei jedem Zuschauer persönlich vorstellen: ging ein paar Schritte, sah jemanden, ein Kind, einen Mann, ein Lachen, blieb stehen, nahm sein rotes Nachthemd zwischen die Fingerspitzen wie einen Rock und machte einen kleinen Knicks, wobei er die Riesenschuhe irgendwie übereinander keilte. Lachen, und jedes Mal wieder: tosender Applaus voller Erleichterung. Als er endlich in der Mitte der Rotunde angekommen war, um voller Komplikationen auf seinen Stuhl zu steigen und seine Gitarre, auf der er spielen wollte, auf dem Boden vergessen hatte in all’seinen Anstrengungen, kehrte Wärme in meine klebrigen Hände zurück. Ich hätte ihm mein ganzes Leben applaudieren wollen nur aus Dankbarkeit, dass er da war in all seiner Zerbrechlichkeit und mich aus dem schauerlichen Käfig voller bestialischer Riesenkatzen befreite. Charlie Rivel.
Der Text hat die poetische Kraft, mich in die spannungsgeladene Szene mitten hinein zu versetzen. Wie gut, dass es Käfige gibt! Als Gestalt außerhalb (Zuschauer) bin ich geschützt vor den gefräßigen Raubtieren. Sicher?! Als Gestalt innerhalb (Raubtier) bin ich geschützt vor den Zuschauermassen. Und der Dompteur? In Lebensgefahr, denn der Käfig fehlt. Geschützt allein durch die Peitschenhiebe , die die Bestien in Schach halten, durch seine Angstfreiheit, durch Dressurkünste, oder etwa durch Freundschaft? Käfig als Schutz- wo bleibt die Freiheit? Der Clown bringt sie. Wie oft hat aus auswegloser Lage das Absurde erlöst…