Und was denkst Du, Alessandro?
Am Freitagabend, den 15. November 2024, ist unser Freund, der Schauspieler, Regisseur, Maler und Bildhauer Alessandro Marchetti verstorben.
Diesen letzten Schritt zu tun, gehört zum Lauf unseres Lebens. Seines war, wie er selbst immer wieder gesagt hat, reich, glücklich und lang. Für uns, die wir noch einen Moment hier verweilen dürfen oder müssen, ist es schmerzlich, einen aussergewöhnlichen Freund und menschlichen Leuchtturm verloren zu haben.
Während meines Erwachsenenlebens war Alessandro Marchetti für mich wesentlicher künstlerischer und menschlicher Bezugspunkt. Alessandro war das Theater. Er war Künstler durch und durch: Regisseur, Schauspieler, Theaterleiter, Maler, Bildhauer.
Erstmals getroffen haben wir uns 1985, als er uns, wir waren im zweiten Ausbildungsjahr am Teatro Dimitri (heute: Accademia Dimitri) in Verscio / Schweiz, einen zweiwöchigen Kurs in Commedia dell’Arte, gegeben hat. Wir haben uns bald verstanden: für uns hatte ein grosser Meister des Theaters die Bühne betreten, und er war wohl verzaubert von unserer überbordenden Energie, die sich anschickte, die Welt aus den Angeln zu heben. Seine Vorstellung von La maschera e il volto, in der er damals, allein mit seinen Masken der Commedia dell’Arte auf der Bühne, das Publikum im ausverkauften Haus auf eine Reise durch die Theatergeschichte mitnahm, war eines der wenigen sensationellen Theatererlebnisse in meinem Leben, die meinen Blick auf das Theater und meine Arbeit geprägt haben.
Kaum war die Ausbildung beendet, machten wir uns an die Produktion unseres ersten Stückes (PALPITATION, 1987), und wir konnten Alessandro tatsächlich dafür gewinnen, Regie zu führen. Entstanden ist ein Stück, für das uns Theater und Festivals weltweit ihre Bühnen öffneten und die Zuschauer ihre Herzen.
Rückblickend, mit der Klarheit, die der zeitliche Abstand bietet, könnte man sagen, dass Alessandro, Spezialist der Commedia dell’Arte und genialer Harlekin, später ein unglaublicher Pantalone, uns in PALPITATION eine bestimmte Form der Vergangenheit schenkte, eine spielerische, aber auch kodifizierte Art, die Charaktere zu präsentieren und ihre Beziehungen und Geschichten zu entwickeln. In PALPITATION konnte man die Commedia dell’Arte noch erkennen, die mit einer gewissen Unschuld aus ferner Vergangenheit unsere Welt erleuchtete – eine Welt, die dabei war, ihre Unschuld endgültig zu verlieren.
PALPITATION erzählte ohne Worte die Liebesgeschichte zwischen einem Mann und einer Frau – wobei die Frau über zwei Meter gross war und der Mann, wie der Kritiker der wichtigsten kolumbianischen Zeitung El Tiempo schätzte, höchstens halb so gross wie sie. Eine scheinbar einfache Geschichte mit einem glücklichen Ende, Charaktere und Bewegungen Reminiszenzen an längst vergangene Zeiten. Mit den ErotiKomischen Geschichten aus Tausendundeiner Nacht wagten wir dann zu sprechen und entwickelten in ODYSSEE und später in HA!HAMLET das von Alessandro geerbte verspielte Theater weiter zu unserem eigenen Stil, führten es sozusagen über in die Gegenwart.
In keiner der unzähligen Aufführungen, die ich weltweit gesehen habe, habe ich je einen Schauspieler mit seinen Qualitäten erlebt. Nie habe ich eine solch extreme Fähigkeit wahrgenommen, jede Figur in all ihren Facetten, in ihrer ganzen Bedeutung, Zerbrechlichkeit und Wahrheit erscheinen zu lassen.
Noch eine Woche vor seinem Tod liess er in seinem Zimmer im Hospiz San Rocco in Verbania in Shakespeares Worten den Geist von Hamlets Vater erscheinen. Glücklich, wie Kindern, wurde uns Umstehenden mit glänzenden Augen von einem Todgeweihten ein tiefer Blick in das Universum des Theaters geschenkt.
Mit seiner Frau Luisella kam er zu allen unseren Uraufführungen (wie wir zu seinen gingen). Sein Kommentar zu unseren Arbeiten war der Einzige, der, in tieferem Sinn, Bedeutung für mich hatte. Und was denkst Du, Alessandro? Seine Antworten waren immer präzise, kein anderer konnte so qualifiziert und genau und dabei so respekt- und liebevoll analysieren und benennen, wo und weshalb etwas funktionierte, und wo die Haken waren, die Stolperfallen, die Webfehler.
Unsere Stücke der letzten zehn Jahre, manche eher Forschungsarbeiten denn Theater für grosses Publikum, begeisterten ihn, und auch wenn sie Meilen entfernt waren von seinen grossen Inszenierungen und Darstellungen, entzündeten sie seine unersättliche Neugier, mit der er den Menschen, dem Theater, dem Leben begegnete.
Manchmal vergingen Monate zwischen unseren Treffen, wir waren auf Reisen, er war mit Luisella und seiner Truppe auf Tournée. Doch es gab auch gemeinsame Reisen: Tage in Venedig, eine gemeinsame Vorstellung der Vorwand für Zeit zusammen, das Abendessen mit Marchetti und dem Schriftsteller Urs Widmer unvergesslich. Dann die Reise in die Piemontesischen Alpen vor sieben Jahren, nur Alessandro und ich, eine Fahrt in seine Erinnerung auf der Suche nach Schlüsseln zu vergangenen Welten. Er war als Achtzehnjähriger nach dem Krieg hier mit der Compagnie seines Vaters auf Tournée gewesen und träumte davon, die Orte wiederzusehen, die sich in seiner Erinnerung vergraben hatten. In einem riesigen, zwanzig Jahre alten Audi mit enormen Ledersesseln, den ich ein paar Monate zuvor geerbt oder besser: geschenkt bekommen hatte, federten wir für ein paar Tage über die Bergstrassen des Piemont. Mit den Erinnerungen fanden wir neue Orte, entdeckten eine neue Welt, über die wir die Jahre danach noch viel sprachen, eine Welt aus winterlichen Berglandschaften, verlassenen Orten mit Delfinen als Wahrzeichen, einem alten, riesigen Hotel in einem dunklen Dorf kurz vor Frankreich, mit uns beiden als einzigen Gästen und mit feschen Kellnern, die uns im gänzlich leeren Speisesaal lautlos Agnolotti, Risotto mit weissen Trüffeln und einen eleganten Barolo auftrugen.
Unsere gemeinsamen Auftritte zählen für mich zu den grössten Theatererlebnissen überhaupt. Das Stück begann und endete nicht auf der Bühne, Alessandro war das Spektakel, von den ersten Proben bis zur Verabschiedung im Hotel nach der Vorstellung. Jedes Wort, jeder Satz, jeder Gedanke vervielfältigte sich mit ihm, führte zu neuen Assoziationen, zu anderen Autoren und Inszenierungen. In seinem Spiel, in seinen Bewegungen, in seinen Worten begannen die Figuren nicht nur zu leben, sondern sie tanzten, sie führten ein Spektakel auf, das, tragisch, komisch, burlesk immer von demselben erzählte: dem Menschen in seiner Verlorenheit, in seiner Desorientierung inmitten einer absurden Welt, einer Welt, die es nicht gut mit ihm meint und die er trotzdem, oder deshalb, bedingungslos liebt.
Wie jedem Theatermann war Alessandro das Pathos ständiger Begleiter. Es war das zweite Studienjahr an der Scuola Teatro Dimitri in Verscio. Ich hatte meinem Geburtsland den Rücken gekehrt, entschlossen, nicht nur meine Ausbildung, sondern auch den Rest meines Lebens fern der sogenannten Heimat zu gestalten. Alessandro führte uns in die Geheimnisse der Commedia dell’Arte ein, wir sprachen auch über italienische Geschichte, und natürlich kamen wir irgendwie auch zum Zustand des heutigen Italiens. Irgendjemand machte eine ironische Bemerkung über das Autofahren in Italien zwischen den Spuren, jemand anders erwähnte die Mafia, das Attentat am Bahnhof von Bologna wenige Jahre zuvor kam zur Sprache, dieses Italien schien in unseren jungen, verwöhnten Augen ein desolates Land zu sein. Plötzlich trat Alessandro einen Schritt nach vorn und sagte: Man muss vorsichtig sein mit Beurteilungen. Wie jedes Land hat auch Italien seine Fehler, aber das ändert nichts an der Liebe zum Land. Italien ist für mich wie eine Mutter! Und auch wenn meine Mutter eine Prostituierte ist, ist und bleibt sie meine Mutter.
Das waren andere Welten für mich damals. Niemals wäre es mir in den Sinn gekommen, dass es möglich sein konnte, so über seine eigenen Gefühle zu sprechen, und vor allem, so etwas wie Liebe zur Heimat ausdrücken zu können oder überhaupt zu wollen. Weder diese italienische Bebilderung der Sprache noch so etwas wie konkrete Gefühle Ländern gegenüber waren mir ein Begriff. Nichts lag mir ferner damals als irgendeine Liebe zur Heimat, war ich doch froh, diesem Deutschland und seiner braunen Geschichte mit meinem Milchbart zeitlich um ein Haar entkommen zu sein. Es fiel mir schwer, diese Liebe zu einer Mutter, die ein Land ist, nachzuvollziehen. Und doch beeindruckten mich Alessandros Worte damals, und in den darauffolgenden vierzig Jahren hatte ich das Glück, sie zu verstehen: seine tiefe Verbindung mit seinem Land zu erfahren und aus seinem Mund die Geschichte seiner Grosseltern und Eltern als Capocomici zu hören. Während langer Mittagessen in seinem Haus über dem Lago Maggiore, die sich oft bis in den späten Abend hineinzogen, nahm er mich mit auf die Tournéen seines sozialistischen Vaters und seiner Truppe durch das Italien des Faschismus, die Auftritte der väterlichen Compagnie während des Krieges und die verbotenen Reisen der Theatergruppe während Ausgangssperren und Verdunkelungsbefehlen. Und natürlich auf die Gastspielreisen seiner eigenen Truppe mit all’ den grossen Werken italienischer und europäischer Autoren. In Wirklichkeit war diese Liebe zu seiner Mutter Italien ein enormes Geflecht von Erinnerungen aller Art, die einerseits mit Italien, seiner Geschichte und seiner Kultur verbunden waren und andererseits von seiner Liebe zum Leben, zu seiner Arbeit und zum Theater sprachen. Es gibt im Italienischen den schönen Ausdruck Figlio d’arte, Kind der Kunst. Auf Deutsch könnte man sagen, Alessandro Marchetti war der Letzte einer Theaterdynastie, aber das klingt bombastisch und gänzlich unbescheiden, wie es eben Dynastien eigen ist. Also: Figlio d’arte, nicht nur letzter Spross einer Künstlerfamilie, die jetzt mit ihm ausgestorben ist, sondern eben auch: Kind der Kunst.
Die deutsche Theaterkultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist auf vollkommen andere Art strukturiert als die der fahrenden Ensembles in Italien seit dem Mittelalter und der Renaissance bis in die Neuzeit: An den Staats-, Stadt- und Tournéetheatern waren (und sind) alle Aufgaben strikt getrennt: Autor, Dramaturg, Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner, Licht- und Tondesign etc., jeder bewegt sich nur in seinem klar umschriebenen Bereich. Die sogenannten freien Theater, die Ende der Sechziger Jahre entstanden, mussten schon aus Kostengründen alles selbst machen, was durch die Knappheit der Mittel auch eine Verarmung der Ausstattung nach sich zog – die Konzentration verschob sich auf das Was: Texte und Schauspieler rückten in den Vordergrund.
Das war die Welt, die ich kannte, und in die hineinzuwachsen ich irgendwie erwartete. Doch dann war hier plötzlich ein Mann, der nicht nur Regie führte, sondern der mit grosser Kunst und unendlichem Geschick auch das Bühnenbild baute und malte und die Kostüme zeichnete und sie nach seinen Entwürfen anfertigen liess. Da war plötzlich totales Theater, Theater als Kunst und als Handwerk und als Leben: dell’Arte. Ein ganzes Theater hatte Alessandro schliesslich im Untergeschoss seines Hauses gebaut und eingerichtet, mit winzigem Foyer, Zuschauerraum und kleiner, aber komplett ausgerüsteter Bühne. Über Jahrzehnte fanden hier Vorstellungen, Lesungen, Vorträge und Kurse statt. Als Zuschauer kam man mit dem ersten Schritt in dieses Schmuckstück aus dem Staunen nicht heraus: Man war umgeben von Figuren und Szenen aus der Commedia dell’Arte, die in grösster Kunstfertigkeit inklusive Häusern, Balkonen und Fenstern als Trompe-l’œils an die Wände und an die Decke gemalt waren.
Seltsam: wenn ich an unsere Treffen zurückdenke, habe ich das Gefühl, dass wir in all’ den Jahren kein einziges banales, oberflächliches Wort gewechselt haben. Das stimmt sicher nicht, aber in meiner Rückschau scheinen Gedanken, Ideen, Bemerkungen, Antworten immer eine tiefere Bedeutung gehabt zu haben, sie waren voller Ironie, immer von Wichtigkeit, und die Grösse unserer Unterhaltungen wird mir erst jetzt klar, wo nur noch die Erinnerung zur Verfügung steht, sie mir vor Augen zu führen.
Alessandro Marchetti hinterlässt mit seinem Tod eine schreckliche Leere.
Da ist nicht nur ein grosser Mensch, ein Theatermann, ein Künstler, ein Freund gegangen, sondern es ist, als hätte er eine ganze Welt mit sich fortgerissen, eine Theaterwelt, die vielleicht ein Ausläufer war aus vergangenen Zeiten, in denen der Schauspieler tatsächlich, wie er uns skeptischen Grünschnäbeln in unseren ersten Lektionen vor fast vierzig Jahren beizubringen versuchte, eine Stufe über der Gesellschaft steht, ausserhalb der Systeme lebt, in die die Normalsterblichen gepfercht sind. Systeme, Zusammenhänge, erklärte er, kann man nur sehen und verstehen, wenn man nicht Teil von ihnen ist. Nicht zuletzt hat er mir beigebracht, dass eine angemessene Gage für Vorstellung auch eine kulturelle Frage ist, eine Frage der Würde. Einen ähnlichen Begriff von Würde von Schauspielern, der Ausdruck einer tiefen Kultur, grossen Könnens und fast grenzenloser Verehrung seitens des Publikums ist, habe ich zwei Jahrzehnte später in Russland erlebt: dort wurden, ob in Jekaterinburg, in Samara oder in Nowgorod, nach den Vorstellungen Empfänge im Haus des Schauspielers gegeben, palastartigen Bauten im Zentrum der Stadt, in denen die Kunst des Schauspiels und die Künstler verehrt und gefeiert wurden. Diese kulturelle Grösse, die ich in Alessandro Marchetti erlebt habe, ist etwas, das wohl vergangen ist. Theater scheint heute eher eine Art Rumgestochere zu sein als tragfähige kulturelle Arbeit, und Schauspieler sind degradiert zu Sozialhilfeempfängern einer Gesellschaft, die nichts mehr mit ihnen anzufangen weiss.
In seinen letzten Tagen, von der Krankheit gezeichnet, aber immer noch voller Gedanken, Liebe und Ironie, nahm Alessandro uns bei der Hand, um uns zu lehren, wie man auch die letzte Reise antritt. Wir sprachen von Erinnerungen, von wichtigen gemeinsamen Momenten, als er, zwischen Infusionen und Sauerstoffschläuchen und sich seines Schicksals sehr bewusst, mit der wenigen Kraft, die ihm geblieben war, flüsterte: Warum wollt ihr immer in der Vergangenheit schwelgen? Lasst uns lieber darüber nachdenken, welches Stück wir als Nächstes aufführen sollen!
Alessandro Marchetti (* 13. November 1930 in Gorizia, gestorben am 15. November 2024 in Verbania) war ein italienischer Regisseur, Schauspieler und Schauspieldozent und Spezialist für Commedia dell’Arte.
Als letzter Nachkomme von drei Künstlergenerationen verband er seine Arbeit als Schauspieler und Regisseur mit Malerei und Bildhauerei.
1968 gründete Marchetti in Mailand die Theatercompagnie Teatro 7, 1970 gelang ihm die erfolgreiche Wiedereröffnung des renommierten Teatro Filodrammatici in Mailand.Tournéen in Italien, in Europa und im aussereuropäischen Ausland (u. a. Senegal, Japan).
Als Regisseur arbeitete er unter anderem am Stadttheater Ingolstadt, Stadttheater Bern, Stadttheater St. Gallen und bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen. Als Dozent wirkte er unter anderem am Mozarteum in Salzburg und an der Schauspielakademie Zürich. Seine Inszenierungen, Theater- und Opernproduktionen waren nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika, Australien, Japan, Afrika, dem Nahen Osten und Russland zu sehen.
Mit seinem Rezital La maschera e il volto – eine Reise durch die Commedia dell’Arte – spielte er über 500 Aufführungen. In Zusammenarbeit mit M. Kunz veröffentlichte er das Buch “Arlecchino & Co” bei Klett & Balmer.
Alessandro Marchetti lebte in den vergangenen drei Jahrzehnten in Verbania, Italien, zusammen mit seiner Frau, der Schauspielerin und Dramaturgin Luisella Sala.
1994 gründete er die Studiotheater–Academie für die Jugend der Provinz Verbano Cusio Ossola. 2005 rief er die Compangia Stabile del V.C.O. mit Sitz in Verbania ins Leben
Er starb am 15. November 2024 in Verbania, zwei Tage nach seinem 94. Geburtstag.
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