Odysseus kehrt zurück: Die Geschichte einer Lehrerin, die sich eine Kindheitserinnerung einfängt
Schnappschuss # 12, 16. Juni 2025
Ja, diese Geschichte ist ein wenig kitschig; trotzdem, oder vielleicht deshalb möchte ich sie Dir hier weitergeben. Sie fängt einen grossen Bogen meiner, unserer Theaterarbeit ein, und einen bewegenden Moment nach unserer letzten Aufführung dieses Jahr.
Der Sommer hat noch nicht einmal angefangen, doch wir schmelzen schon dahin. Die Produktion eines neuen mehrsprachigen Podcasts hat begonnen (Details folgen), die Kreation der neuen Website macht Fortschritte. Wir entwickeln die neuen Angebote für Kurse im kreativen Schreiben weiter, und vergangene Woche haben wir mit ODYSSEE die letzte Vorstellung der Saison präsentiert.
Dabei haben wir Giulia getroffen.
Kaum zu glauben.
Odysseus kehrt zurück: Die Geschichte einer Lehrerin, die sich eine Kindheitserinnerung einfängt
Als wir die erste E-Mail von Giulia erhielten, einer Lehrerin an der Mittelschule in Biasca, konnten wir uns nicht vorstellen, welche Geschichte sich hinter ihrer Anfrage verbarg, ODYSSEE an ihrer Schule aufzuführen. Erst nach der Vorstellung, im Gespräch mit ihr und beim Anblick eines Fotos aus ihrem Erinnerungsbuch mit unseren Autogrammen, wurde uns bewusst, welch enormer Kreis sich mit der heutigen Aufführung und der Begegnung mit Giulia auf aussergewöhnliche Weise geschlossen hatte.
Giulia hatte ODYSSEE 1994 als Kind gesehen. Nicht nur einmal, sondern dreimal innerhalb kurzer Zeit – zweimal am selben Tag. Ihre Eltern, Lehrer an der Mittelschule in Ambrì, einer kleinen Stadt in der Nähe von Biasca am Fusse des Gotthardmassives, hatten sie mitgenommen, um ihr das Stück an ihrer Schule zu zeigen. Schon die Tatsache, dass ich das Stück mehrmals so kurz aufeinander gesehen habe führte dazu, dass ich die Geschichte verinnerlichte und und sie mir ans Herz wuchs. Es hatte mich fasziniert, dass Ihr zu zweit unendlich viele Figuren dargestellt habt.
Jahrelang blieb das Theaterstück ODYSSEE ihre wichtigste Referenz für Homers Epos. Wenn wir zu Hause Auszüge lasen oder Zeichentrickfilme sahen, war der Gedanke immer mit Eurer Inszenierung verbunden. Der Scherz, in dem Zeus Telemach (Telemaco) zerstreut Telecomando – Fernbedienung nennt, wurde zu einem Familienwitz, der seit Jahrzehnten anhält: Könntest du mir bitte den Telemach geben?
Dreissig Jahre später, als sie das Italienischprogramm für das neue Jahr, beginnend mit dem Mythos bis zur Lektüre von Molesinis "Das Abenteuer des Odysseus", vorbereitete, erinnerte sie sich an die damalige Aufführung. Mit Hilfe ihres Mannes, eines Griechisch- und Lateinlehrers, gelang es ihr, sich an den Namen Patrizia Barbuiani zu erinnern, weil wir wussten, dass sie damals auch Big Box moderiert hatte – eine Jugendsendung der Neunzigerjahre im Schweizer Fernsehen RSI. Die Online-Suche brachte zwar nicht die erhofften historischen Videos vom Stück, aber dafür die Gewissheit, dass Ihr die ODYSSEE immer noch aufführt.
Ich habe nicht gross darüber nachgedacht, ob es funktionieren würde. Ich sagte mir, dass es so schön war damals, dass ich mich noch daran erinnerte und dass ihr es immer noch aufführt. Die Schulleitung nahm den Vorschlag bereitwillig auf, die Kollegen für Italienisch und Geschichte waren begeistert.
Am Tag der Aufführung im Juni 2025, im zum Theater umfunktionierten Atrium der Mittelschule, erlebten 130 Schüler denselben Zauber, der Giulia als Kind gefangen hatte. Die Schüler der Sonderschule, die bei uns integriert ist, lachten laut über die Witze und warfen sich verschwörerische Blicke zu. Die neu angekommenen Schüler des Sprach- und Integrationskurses konnten der Geschichte dank der Gesten folgen, auch wenn sie die Worte nicht verstanden, und waren in der anschliessenden Diskussion berührt zu hören, dass Patrizia und Markus das Stück auch in ihren Herkunftsländern aufgeführt hatten.
Nach der Vorstellung integrierte Giulia die Erfahrung in ihren Unterricht und liess die Schüler darüber nachdenken, wie zwei Schauspieler all’ diese Figuren darstellen können. Wir analysierten die Parallelen zwischen bildender Kunst und Theater und entdeckten die Hand als zentrales stilistisches Element, besonders sichtbar in Form von Poseidons Dreizack, dem Lorbeerkranz des Zeus, in Athenas Bogen.
Für uns von der Markus Zohner Arts Company, die seit über 35 Jahren unsere Stücke in die ganze Welt tragen – von Russland bis Griechenland, von Pakistan bis Kasachstan, von Persien bis Brasilien – verkörpert diese Geschichte eine Essenz des Theaters: Der Versuch, Erinnerungen zu schaffen, die Generationen überdauern. ODYSSEE setzt seine Reise fort und trägt dabei nicht nur die Abenteuer des Odysseus mit sich, sondern auch die Geschichten derer, die wie Giulia eine Kindheitserinnerung in ein Geschenk für ihre eigenen Schüler verwandeln.
Zu wissen, dass auch meine Schüler es sehen konnten und sich vielleicht dank dessen an einige Fragmente der Odyssee erinnern werden, ist für mich eine grosse Freude, schreibt uns Giulia. Und für uns ist das Wissen, dass unsere Arbeit weiterlebt und sich über Generationen hinweg vervielfacht, wohl die schönste Bestätigung unseres Theaterschaffens.
Was für eine wunderschöne Geschichte 💫❤️